Vergiss die Karpaten nicht!

Es gibt hierzulande eine uralte Redewendung, feierlich und bedeutungsschwer wie ein elftes Gebot: "Vergiss die Karpaten nicht!" In diesem fast tausend Kilometer langen Gebirgsbogen fand das rumänische Volk Schutz in versunkenen Zeiten blind wütender Barbareneinfälle und später in den rauhen Epochen euro-asiatischer Weltreiche.

Die Karpaten haben sogar den Namen bewahrt, den ihnen vor mehr als zwei Jahrtausenden die dakischen Vorfahren der Rumänen gegeben haben. In den Tälern der Karpaten haben sich althergebrachte Bräuche und Trachten unverfälscht erhalten, an ihrem Nordostrand entstanden jene berühmten Klöster Voronetz, Moldovitza, Arbore, Humor -, deren Wandmalereien den Himmel öffnen, hier entstanden die rumänischen Volkslieder, die von Gerechtigkeit und Güte, von Schönheit, Tapferkeit und Beschaulichkeit erzählen und von fast mystischer Naturverbundenheit.

 

"Unsere Brüder, die Karpaten" - heißt es darin, und man kann einfach nicht von diesen Brüdern erzählen, von ihrem heutigen bunt-modernen Leben, ohne ihrer alten Bedeutung für dieses Volk zu gedenken. Es wäre Mißachtung des elften Gebotes, Vergessen ihrer wichtigsten Würde. Und wer weiß, welche Strafe dafür von den bodenlosen Schluchten und überhängenden Felswänden der Karpaten droht.

Die heutigen Karpaten sind oberflächlich, modern, fast frivol. Sie sind's vielleicht noch nicht ganz so wie ihre westlicheren Brüder in Europa, aber die moderne Entwicklung drängt unaufhaltsam dahin. Das ist kein Vorwurf, ich will diese Bergwelt beileibe nicht in geschichtliche Düsterkeit und Sklaverei zurückversetzen. Oberflächlichkeit und eine gesunde Dosis jugendlicher Gefallsucht sind gerade das, was die Karpaten heute zum Leben, zum Überleben brauchen. Und wenn wir sie anders haben wollten, also ohne Farben und Lieder, ohne Ski-Pisten und Schutzhütten mit nie versiegenden Wein- und Bierfässern, ohne unbekümmert kraxelnde und purzelnde Kinder, ohne kurzfristige Weihnachtsbaumschulen, ohne Lagerfeuer, in deren zuckendem Schein keine tödlichen Pfeile mehr gespitzt werden, sondern moderne Tänze mitzucken, wenn wir sie ohne Kühlung und Sättigung versprechende Reklame haben wollten, ohne Wegweiser und ohne malerische Schafherden, die wie absichtlich zurückgelassene Überreste der Vergangenheit anmuten - dann, dann gäbe es unsere Karpaten heute buchstäblich nicht mehr, dann dürfte die Welt, dann dürften sogar wir sie vergessen.

Aber es gibt sie, und es ist herrlich, daß ein ganzes Land sich so großartig mit seinen Bergen versteht. Man sieht sie von überall, wuchtig drohend oder als fern verträumte blaue Schatten, Kinder lallen früh ihren Namen, gleichzeitig mit dem der Eltern und Geschwister.

Die Karpaten - gewaltig, hart, geheimnisvoll, ehrfürchtiges Erschauern der Geschichtsstunden, stolzes Staunen in Geographie und doch etwas Trautes, Familiäres, das nach Ferien und Ausgelassenheit klingt. Denn dazu sind sie heute da: um Menschen fröhlich und übermütig zu machen, um strahlender Jugend glitzernder Rahmen zu sein, um schmalen Zelten sicheren Platz zu bieten und sehnsüchtigen Liedern klingenden Widerhall. Und um sich allmählich entdecken und erobern zu lassen.

 

Der Halbbogen, der an der Nordgrenze des Landes beginnt und sich bis Kronstadt hinzieht, ist eine phantastisch zerklüftete Kette von Überraschungen, ein Spitzengewebe aus Kalkstein mit grotesk zerzackten Kämmen und unerforschten Höhlen, mit verblüffenden Bildhauerwerken der Natur (oder versunkener Giganten, wie man es von den sphinxartigen Gebilden am Butschetsch-Plateau und den Riesenpilzen am Ceahlau immer wieder zu beweisen versucht), mit den drohenden Wasserfällen des Hohenstein und mit märchenhaften Eisgrotten. Seltene oder gar unbekannte Pflanzen erwarten hier den Kenner, Bären tauchen auf - es ist allerdings ungefährlicher, sie durchs Gitter zu betrachten, diese braunen Karpatenriesen, neben denen ein Grizzly sich wie ein schwächliches Junges ausnehmen würde. Es sind wohl die größten Gebirgsbären der Welt, und auch die Karpatenhirsche finden kaum ihresgleichen an Größe und Schönheit des Geweihs. Von Kronstadt nach Westen erstreckt sich bis zur Donau der zweite Halbbogen, die granitenen Bergketten der Südkarpaten, gewaltige Gesteinsmassen, von wenigen schmalen Pässen mühevoll durchbrochen. Es sind wahrhaft königliche Berggiganten, die da in den großen, spiegelnden Seen ihre weißen Kronen bewundern. Die Gemse ist hier zu Hause, ihr Revier ist die Unwegsamkeit. Ab und zu tauchen Ruinen dakischer oder romanischer Festungen auf und mit ihnen die Schauer der Vergangenheit und Vergänglichkeit. Die beiden Bogenenden der Ost und Südkarpaten werden schließlich durch die Westkarpaten oder das Siebenbürgische Erzgebirge verbunden, berühmt durch drei bis vier stockwerktiefe Höhlen, durch Urwälder und verschwiegene Uranium-Vorkommen und nicht zuletzt durch den unbeugsamen MenschenschIag der Motzen.

Jede Kette, jedes Tal, jeder Gipfel der Karpaten hat seine Eigenheit, seine Persönlichkeit: Ein schwarzer Basaltberg mit glatter, runder Kuppe, die Detunata, droht wie eine riesige Kanonenkugel den bleichen Himmel zu zersprengen; im Retezat muten Gegenden so kahl und seltsam an, daß man sich fast in eine Mondlandschaft versetzt glaubt; die Fogarascher Berge sind das wilde, grausame Reich der Gletscherseen; der viele Kilometer lange Kamm des Königssteins sägt so scharf und schmal in den Himmel, daß man ihn nur mit Seiltänzergeschick entlanggehen kann; durch die Vrantschaer Berge ziehen hirtenlose Herden, von Eseln angeführt, von bösen Hunden treu bewacht; und im Dorna-Gebirge wächst ein Edelweiß, größer als der Handteller eines Erwachsenen.

Doch es gibt eine Bergkette in den Karpaten, berühmter als alle anderen, ihr Stolz und Kleinod: das Butschetschgebirge. Kette ist diesmal ein besonders gutes Wort, denn dieses Gebirge hat die Form einer Halskette, und die Perlen daran sind die prächtigsten und malerischsten Ortschaften des Landes. Sinaia, Predeal, Busteni, Azuga, Bran, Timis, Kronstadt, die Schulerau.

Hier stehen die bequemsten Hütten und die elegantesten Hotels, hier gibt es die sichersten Wege und Pfade, aber auch die wildesten, manchmal geradezu gespensterhaften Landschaften. Und was unvergleichlich wichtiger ist: Das Butschetschgebirge ist die Heimat des Wintersports, und der Tag wird kommen, und er ist nicht mehr weit, wo es altberühmten Zentren vvie Davos, Cortina d'Ampezzo, Grenoble, Garmisch-Partenkirchen ihren Ruhm streitig machen wird.

Die Karpaten stehen in besonders gutem Einvernehmen mit dem Winter, auch das gehört zu ihrem Zauber. Sie sind immer überreichlich mit Schnee versorgt, und eine geradezu aggressive Sonne taucht das Traumreich bis tief in die Täler hinein in gleißende Helle, so überwältigend,daß man manchmal Ski und Schlitten und sogar das Mädchen, das längst unten angekommen ist und ungeduldige Zeichen macht, vergißt, um den Blick über die unwahrscheinliche Pracht hinträumen zu lassen.So etwas geschieht wohl überall, wo es Berge und Winter gibt. Aber die Karpaten haben etwas besonderes für sich ins Feld zu führen: Sie sind der geschichtlichen Strenge und Düsterkeit eben erst entschlüpft, sie lechzen nach modernen Umwälzungen. Und nach Übermut.

(Constantin Chirita)

Nach oben